Es könnte lustig sein, wenn es nicht um so viel Geld ginge: In Italien wird die Milch von 300.000 Kühen verkauft, obwohl sie uralt sind - oder längst tot. Polizeifahnder vermuten einen Milliardenbetrug mit EU-Subventionen, in den auch staatliche Stellen verstrickt sein sollen.
Rom - Italien ist das Land der Wunder. In Civitavecchia weint eine Madonna aus Gips echte Tränen, bei einer Kollegin in der Nähe von Neapel wird der Gips regelmäßig zu Fleisch und Blut, teilweise jedenfalls. Und seit 600 Jahren wird an jedem 19. September das eingetrocknete Blut des Heiligen Januarius flüssig - belegt von Hunderten von Zeugen. In Italien ist also alles möglich.
Aber was die Carabinieri-Sonderermittler des "Kommandos für Agrarpolitik und Nahrungsmittel" (Nac) bei ihren Recherchen in den Datenbanken der italienischen Agrarbürokratie entdeckten, und was dann der Zeitung "Il Fatto Quotidiano" zugespielt wurde, das mochten nicht einmal die Wundergläubigsten unter ihnen glauben. So sollen nun über 60 Staatsanwaltschaften überall in Italien das Mysterium erhellen.
Meist werden Kühe aussortiert und geschlachtet, wenn sie etwa acht Jahre alt sind. Sie geben dann kaum noch Milch, und viel älter würden sie ohnehin nicht. In Italien aber stehen etwa 300.000 Kühe in den Ställen und werden - jedenfalls nach der amtlichen Statistik - erfolgreich gemolken, obwohl sie viel, viel älter sind. Manche produzieren auch mit 83 Jahren noch Milch wie zu ihren besten Zeiten.
Doch auf der Suche nach dem Milchwunder stießen die Nac-Fahnder immer wieder auf leere Kuhställe, wo eigentlich viele Tiere stehen sollten. Beinahe jede fünfte in Italien registrierte und bei der EU in Brüssel ordentlich gemeldete Kuh war faktisch nicht vorhanden. Noch seltsamer: Die von den Phantomkühen stammende Milch - genauso akribisch in den Amtsstatistiken erfasst - kommt regelmäßig auf den Markt, wird verkauft, getrunken oder, unter Mitnahme von EU-Subventionen, von der Lebensmittelindustrie verarbeitet. 1,2 Milliarden Liter Milch, von denen bislang niemand weiß, woher sie stammen.
Das Lebensalter wurde von 122 Monaten auf 999 umgestellt
Dahinter steckt auf jeden Fall, da sind sich die Nac-Carabinieri sicher, ein gigantischer Schwindel. Möglich ist der in dieser Form nur im letzten Überbleibsel des realbürokratischen Staatskapitalismus: dem europäischen Agrarmarkt. Denn hier darf nicht jeder produzieren, was er gerade will, Milch etwa. Er braucht eine Genehmigung, eine sogenannte "Quote", um eine bestimmte Menge Milch melken zu dürfen. Mag er nicht mehr melken, schafft er die Kühe ab, behält aber unter Umständen die Quote. Er kann sie an den Nachbarbauern verpachten - oder auch ins ganz große Milchkarussell einbringen, wo es dann um andere Mengen und andere Summen geht.
Eigentlich wird das alles genau kontrolliert, jeder Liter der weißen Flüssigkeit gezählt. Auch in Italien. Da gibt es eine Agentur, die im Auftrag der Regierung den Viehbestand und alles Drumherum erfasst und statistisch verarbeitet. Aber die sagt nun, für die Korrektheit der Daten sei sie nicht zuständig. Das sei Sache der Viehhalter und der Tierärzte des nationalen Gesundheitsdienstes.
Aber merkwürdig: Irgendwer hat irgendwann das potentielle Lebensalter der Kühe in den amtlichen Computern von einst 122 Monaten auf 999 Monate umgestellt. Das war die technische Voraussetzung für den Schwindel, denn sonst wären die steinalten Kühe automatisch aus der Datei geflogen. Wer das war, ist einstweilen noch unklar.
Den Schaden hat der Steuerzahler, doch wer hat den Gewinn?
Und dann gibt es ein Unternehmen, in staatlicher Hand, das den Milliardenfluss an EU- Subventionen, die aus Brüssel nach Italien fließen, verwaltet, verteilt und im Gegenzug die nationalen Agrardaten nach Brüssel schickt. Auch jene über die Kühe und ihre Milchabgaben. Die waren, nach den jetzigen Ermittlungen, seit Jahren falsch, nämlich viel zu hoch angesetzt. Das kam den italienischen Staat teuer zu stehen: Weil die nach Brüssel gemeldeten Milchmengen von italienischen Kühen regelmäßig die dem Land zugeteilte Gesamtquote überschritten, musste Rom deftige Strafen zahlen. Über die Jahre summierten sich die, nach überschlägiger Rechnung, auf rund vier Milliarden Euro.
Der italienische Steuerzahler hat damit den Schaden, doch wer hat den Gewinn? Wo kommen die 1,2 Milliarden Liter Milch her, wenn sie nicht von Italo-Rindern stammen? Milchpulver aus Übersee? Schwarzimporte aus Osteuropa? Und wer bringt solche gigantischen Mengen illegaler Einfuhren legal auf den Markt?
Im Fokus der Untersuchung steht neben den zuständigen - oder nicht-zuständigen - Agenturen, großen Viehaltern und etlichen weiteren Gesellschaften und Personen auch der ehemalige Kabinettschef des Landwirtschaftsministeriums. Er wurde Ende März ausgewechselt. Dabei hat er reichlich Erfahrung mit Ermittlungen, auch solchen gegen ihn. Vorwürfe von Amtsmissbrauch, Betrug und dergleichen, das Übliche in der italienischen Politik. Und, ebenso üblich, alles ist irgendwie im Sande verlaufen.
Nur für eine, ihm zugeschriebene Glanztat wird er heute noch gelegentlich gerühmt: 2005, bei der Ausschreibung von sechs Führungsposten im Landwirtschaftsministerium, sollen seine Ehefrau und seine Sekretärin zum Zuge
und die Deutschen plagen sich noch mit melken....