Weg ist weg!
Kennen Sie noch den alten Dorfladen in der Hauptstrasse, Oberstrasse oder am Anger? Dort mussten die Kinder hin, einkaufen: Ein Pfund Butter, zwei Liter Milch, etwas Aufschnitt („Darfs noch etwas sein?“). An Ende wurde der Einkauf in einem kleinen Ringheft „angeschrieben“ und einmal im Monats abgerechnet. Es hatte etwas mit Vertrauen zu tun. Deshalb hieß sie ja auch „Tante“ Emma, obwohl es keine verwandtschaftliche Beziehung gab.
Irgendwann ging Tante Emma in den wohlverdienten Ruhestand und der Laden machte dicht. Das war die ideale Variante. Genügend Läden aber mussten schließen, weil wir dort nicht mehr einkauften. Warum taten wir das nicht mehr? Es hatte etwas mit der Auswahl zu tun, eventuell der Frische, vor allem aber mit dem Preis. Als Notnagel war Tante Emma gut, die Masse wurde erst im Supermarkt, später im Discounter gekauft.
War Tante Emma schuld am Tod der Gemütlichkeit im Handel? Hatte sie Gesetze nicht eingehalten, Mitarbeiter schikaniert, gelogen und betrogen? Nein, sie hatte nur nicht mehr mithalten können. Als sie aber die Tür endgültig abschloss, wurde Tante Emma dafür von uns noch kritisiert. „Du kannst doch nicht einfach dichtmachen, so ein Laden gehört zum Dorf wie die Kirche!“ Doch wer war es, der Tante Emma die Lebensgrundlage raubte? Die Politik? Ja sicher, mit immer höheren Auflagen in Bezug auf Hygiene, Arbeitsrecht und so weiter. Der Markt? Sicher, denn einer sinkenden Marge konnte man nur über einen steigenden Umsatz begegnen. Wir Verbraucher? Ebenso, denn wir hatten es von Anfang an in der Hand, den Laden im Dorf zu halten. Und wir wollten es so sehr, rein emotional gesehen. Aber unsere Geldbörse sagte immer wieder Nein, bis Tante Emma die einzig richtige Konsequenz zog. Zumal ein Nachfolger nicht in Sicht war.
Heute kaufen wir beim Discounter und es stört uns nicht. Wir kaufen im Supermarkt, der uns etwas „Tante-Emma-Gefühl“ vorgaukelt und fühlen uns dabei ganz wohl. Und die Politik? Sie versucht mit viel Fördergeld, neue Tante Emmas in unseren Schlafdörfern zu installieren.
Noch gibt es sie, die bäuerlichen Familienbetriebe. Und wir alle wollen sie erhalten, rein emotional gesehen. Doch ihre Zahl sinkt laufend. Halten die Bauern etwa Gesetze nicht ein, schikanieren Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser, lügen und betrügen? Nein. Es ist die Politik und es sind wir Verbraucher, die an der wirtschaftlichen Substanz der Bauern nagen. Immer mehr Auflagen verteuern die Erzeugung. Der Ausweg: mehr Menge, um die sinkende Marge zu kompensieren. Doch auch das gibt Ärger. Denn Groß gilt uns Bürgern heute als Böse. So sind wir in Jahrzehnten sozialisiert worden. Anders als bei Tante Emma nagen Politik, Medien und NGOs zunehmend an der psychischen Substanz der Bauernfamilien, die heute Agroindustrielle genannt werden. Das fängt für viele von uns schon bei 1.000 Hühnern an. Und so gibt es heute Dörfer, die nicht nur Tante Emma, sondern auch den letzten Bauern verloren haben.
Verschwindet aber der letzte Bauer aus dem Dorf, dann stellt sich bei uns ein Gefühl der Leere ein. Da fehlt doch etwas? Wo sind die Tiere auf der Weide? Ach ja, das sind jetzt Naturschutzflächen. Wo ist der Erlebnisbauernhof für die Dorfkinder geblieben? Das übernimmt jetzt der staatlich geförderte Spielplatz. Wo machen Kinder erste Gehversuche mit modernster Technik? Auf dem Schleppersitz? Nein, im Sitzsack, die Wii in der Hand. Wo stärkt der Körper seine Abwehrkräfte, wenn der Kuhstall fehlt? Natürlich, beim Arzt. Dort gibt es die Grippeimpfung und den Allergietest! Wer verkauft mir regionale Milch? Im übernächsten Dorf soll es noch jemanden geben.
Niemand von uns wollte Tante Emma aus dem Dorf drängen. Aber getan haben wir es alle. Niemand will die Bauern aus dem Dorf drängen...
Weg ist weg. Quelle : BV S-H