Braudel Sozialgeschichte des 15-18Jh "Der Alltag"197ffNehmen wir also die in der Literatur so häufigen Klagen über die Ernährung der armen Bauern, denen die Reichenangeblich »Wein, Weizen, Hafer, Rinder, Hammel und Kälber wegnehmen und nur trocken Brot lassen«, nicht allzu wörtlich : Wir haben Beweise für das Gegenteil.
In den Niederlanden war im 15. Jahrhundert »Fleischeine derart alltägliche Kost, daß eine Hungersnot die Nachfrage kaum sinken ließ« und der Fleischverbrauch in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stetig zunahm (z. B. im
Nonnenhospital von Lier) 27 .
In Deutschland befahl ein Erlaß der Herzöge von Sach-
sen 1482 : »Denen Werkleuten sollen zu ihrem Mittags- undAbendmahl nur 4 Essen : an einem Fleischtag eine Suppe, zwei Fleisch und ein Gemüse ; an einem Freitag und an-
dere Tage, da man nicht Fleisch isset, ein Essen, grüne oder dürre Fische, zwei Zugemüse ; so man fasten muß, fünf Es-
sen, eine Suppe, zweierlei Fisch, zwei Zugemüse. Dazu morgens und abends noch Brod«, außerdem Kofent (Dünnbier) vorgesetzt werden.
Eine Handwerkermahlzeit, die man schon fast als bürgerlich bezeichnen kann. Und wenn 1429 im elsässischen Oberhergheim der zur Fron herange-
zogene Bauer nicht mit den anderen auf dem Meierhof essen wollte, mußte ihm der Meier »zwei Stück Rindfleisch, zwei Stück Braten, ein Maß Wein und Brot für zwei Pfen-
nige schicken« 28 .
Zu diesem Thema verfügen wir noch über andere Zeugnisse. So bildet in Paris 1557 nach Aussage eines
ausländischen Beobachters »Schweinefleisch die gewohnte Nahrung der armen, der wirklich armen Leute, während
jeder Handwerker und Kaufmann, so kärglich sein Auskommen auch sein mag, an den Fleischtagen, genau wie
die Reichen, Zicklein oder Rebhuhn essen will« 29
Voraussetzung für diese Fleischberge ist eine regelmäßige Versorgung durch das Hinterland oder nahe Bergland (die Schweizer Kantone) bzw. durch die Ostgebiete –
Polen, Ungarn und die Balkanländer, die noch im 16. Jahrhundert halbwildes Schlachtvieh nach Westen, vor allem nach Deutschland und Norditalien, treiben. Auf dem größ-
ten deutschen Viehmarkt in Buttstädt bei Weimar wundert sich niemand, wenn »riesige Herden von 16 000 oder gar 20 000 Rindern« auf einmal aufgetrieben werden 3
Ganz unbestreitbar hat Europa also zwischen 1350 und1550 eine Periode individuellen Wohlstands erlebt. Nach den Pestkatastrophen waren die Arbeitskräfte rar geworden, die Arbeits- und Lebensbedingungen also zwangsläufig gut. Nie waren die Reallöhne so hoch wie damals. 1388 klagten die Domherren der Normandie, keinen für die
Feldbestellung finden zu können, »der nicht mehr fordert als sechs Knechte zu Beginn dieses Jahrhunderts« 33
ein Punkt, der Beachtung verdient, nehmen doch nach landläufiger Meinung Not und Elend zu, je weiter wir ins Mittelalter zurückgehen.
In Wirklichkeit aber gilt für den Lebensstandard des gemeinen Volkes, d. h. der Mehrheit der Menschen, genau das Gegenteil. Ein untrügliches Detail :
Vor 1520–1540 essen im noch dünn besiedelten Langue-doc die Bauern und Handwerker Weißbrot 34 . Je weiter wir uns jedoch vom »Herbst« des Mittelalters entfernen, desto spürbarer verschlechtert sich die Lage – ein Trend, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in bestimmten Gegen-den Osteuropas, v. a. auf dem Balkan, sogar bis ins 20. Jahr-
hundert anhält. usf....